Caracciolas Rekord hielt 79 Jahre – 432,7 km/h auf der Autobahn
Mit dem Mercedes-Benz W 125 Zwölfzylinder-Rekordwagen stellt Rennfahrer Rudolf Caracciola am 28. Januar 1938 den weltweit gültigen Geschwindigkeitsrekord auf einer öffentlichen Straße auf: 432,7 km/h erreicht er auf der Autobahn zwischen Frankfurt am Main und Darmstadt über einen Kilometer mit fliegendem Start. Rekorde, wie der von Caracciola, inspirieren bis heute. Zum Beispiel beim Projekt „Electric High Speed“ in Zusammenarbeit zwischen Gorden Wagener, Chief Design Officer der Daimler AG und der Fakultät für Design der Hochschule für angewandte Wissenschaften München.
In den Jahren 2016 und 2017 entstanden im Rahmen des Projekts
Designentwürfe auf der Grundlage zukunftsweisender Technologien für
radgetriebene Hochgeschwindigkeits-Rekordwagen mit Elektroantrieb. Unter
der Leitung von Prof. Dr. Othmar Wickenheiser ließen sich angehende
Automobildesigner besonders von den Karosserieformen der historischen
Mercedes-Benz Rekordwagen aus den 1930er-Jahren anregen. Entstanden sind
Designkonzepte für Rekordwagen jenseits der 800-km/h-Marke.
Hochschule für angewandte Wissenschaften München, Fakultät für Design, 2016 und 2017. Designstudenten erarbeiten Designentwürfe für radgetriebene Hochgeschwindigkeits-Rekordwagen mit Elektroantrieb Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Einen geradezu elektrisierenden Projekteinblick gibt das gerade
erschienene Buch „Electric High Speed“ (Shaker Media, Aachen, 524
Seiten, 119,80 Euro, ISBN 978-3-95631-626-5). Einige der im Rahmen des
Projekts erarbeiteten Designentwürfe sind als Modelle im Maßstab 1:4
umgesetzt. Diese und außerdem ebenso eindrucksvolle Modelle historischer
Mercedes-Benz Rekordwagen werden voraussichtlich auf der Fachmesse
Techno Classica in Essen (21. bis 25. März 2018) zu sehen sein.
Rudolf Caracciola und sein Geschwindigkeitsrekord. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Rückblende. Das Motorsportjahr 1937 läuft zunächst vorzüglich für
Mercedes-Benz: Die Marke gewinnt die Grand-Prix-Europameisterschaft. Das
will sie mit einem ebenso fulminanten Geschwindigkeitsrekord ergänzen.
Doch dieses Vorhaben misslingt. In der Rekordwoche von Frankfurt am Main
im Oktober 1937 kann der Rekordwagen W 125 mit 5,6-Liter-V12-Motor die
konkurrierenden Fahrzeuge der Auto Union nicht übertrumpfen. Die
Stuttgarter Marke zieht das Fahrzeug aus dem Wettbewerb zurück und
beschließt, den Rekordwagen für einen nächsten Versuch umfassend
weiterzuentwickeln. Innerhalb von nur acht Wochen bringen Rudolf
Uhlenhaut, der technische Leiter der Rennabteilung, und
Entwicklungsvorstand Max Sailer die notwendigen Arbeiten auf den Weg.
Stattfinden wird die nächste Rekordfahrt am 28. Januar 1938.
Die Vorgaben an die Ingenieure lauten: Fahrgestell und Motor
modifizieren und eine völlig neue Karosserie entwickeln. Der Grund dafür
ist vor allem ein zu großer Vorderachsauftrieb der Version von 1937,
der zeitweise sogar zum Verlust der Lenkfähigkeit geführt hat.
Rudolf Caracciola und sein Mercedes-Benz W 125 Zwölfzylinder-Rekordwagen. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Für die neue Karosserie erhält Mercedes-Benz wichtige Impulse aus der
Flugzeugindustrie. Unter anderem aus den Entwicklungsabteilungen der
Flugzeugwerke von Ernst Heinkel und von Willy Messerschmitt kommt die
Empfehlung, den vorderen Überhang zu verkürzen und die Front runder zu
gestalten. Zudem wird die Front weiter nach unten gezogen und läuft an
der Spitze steiler aus. Das senkt den Vorderachsauftrieb.
Ein längeres und stärker angehobenes Heck reduziert den Auftrieb an der
Hinterachse. Außerdem wird der Querschnitt des Wagens stärker
abgerundet, was die Seitenwindempfindlichkeit reduziert. Schließlich
entsteht eine runde, dem Grundriss und Querschnitt eines Tropfens
nachempfundene Cockpitverglasung. Bisher hatte Rennfahrer Rudolf
Caracciola wegen des Risikos der Sichtverzerrung ablehnt. Nun findet
Mercedes-Benz gemeinsam mit einem Zulieferer eine optisch wie
aerodynamisch befriedigende Lösung. Die konsequente Stromlinienform des
Fahrzeugs wird zudem durch die verkleideten Radausschnitte unterstützt.
Rudolf Caracciola und sein Geschwindigkeitsrekord mit dem Mercedes-Benz W 125 Zwölfzylinder-Rekordwagen . Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Auffällig ist der geringe Durchmesser der Lufteinlassöffnungen in der
Front der Stromlinienkarosserie. Dies wird durch die innovative
Eiskühlung des Rekordwagens möglich. Dabei befindet sich der Kühler in
einem Behälter mit 48 Liter Wasser und fünf Kilogramm Eis. Zusätzliche
Kühlwirkung kann bei Bedarf durch Trockeneis erzeugt werden. So entfällt
die Kühlerdurchströmung mit Luft, die sich in einem deutlich höheren
Luftwiderstand des Fahrzeugs bemerkbar machen würde.
Die Anregung für die Eiskühlung kommt von der Deutschen Versuchsanstalt
für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof. Wie erfolgreich die Ausrüstung
des W 125 Rekordwagens mit der neuen Karosserie ist, zeigen vier
Jahrzehnte später ausgeführte Messungen im Mercedes-Benz Windkanal. Dort
erreicht der Silberpfeil in seiner Fahrkonfiguration einen exzellenten
Luftwiderstandsbeiwert von 0,170.
Rudolf Caracciola und sein Geschwindigkeitsrekord. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Der bei den abgebrochenen Rekordversuchen im Oktober 1937 eingesetzte
V12-Motor mit 5577 Kubikzentimeter Hubraum wird komplett zerlegt und
optimiert. Unter anderem soll durch eine Anreicherung des
Verbrennungsgemischs und verstärkte Kolbenbolzen seine Zuverlässigkeit
erhöht werden. Zu den weiteren Maßnahmen gehören auch vernickelte
Kolbenböden, um das Risiko von Verschmorungen zu senken. Außerdem wird
das Kolbenspiel erhöht. Schließlich sorgt Georg Scheerer in der
Motorenwerkstatt der Rennabteilung für eine gleichmäßige
Gemischversorgung der einzelnen Zylinder.
Prüfstandläufe bestätigen den Erfolg sämtlicher Arbeiten. Eine
Leistungsmessung vor dem Einbau des Motors ins Fahrzeug ergibt am 29.
Dezember 1937 eine Leistung von 525 kW / 714 PS ohne
Zusatz-Schiebervergaser. Zusammen mit diesen zusätzlichen Vergasern
würde die Leistung rund 563 kW / 765 PS betragen, teilt Scheerer am 6.
Januar 1938 mit. Das sind 21 kW / 29 PS mehr als der Motor bei den
Rekordversuchen acht Wochen zuvor erreicht hatte.
Rudolf Caracciola und sein Geschwindigkeitsrekord. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Es ist eine Rekordfahrt, wie sie bislang noch niemand gewagt hat. Und es
lohnt sich: Auf der im Mai 1935 eröffneten Autobahn zwischen Frankfurt
am Main und Darmstadt, der späteren Bundesautobahn A 5, erreicht Rudolf
Caracciola am Morgen des 28. Januar 1938 kurz nach 8 Uhr die bis dahin
schnellste auf einer öffentlichen Straße erzielte Geschwindigkeit: Er
kommt über den Kilometer mit fliegendem Start auf 432,7 km/h und bricht
auch den Rekord für die Meile mit fliegendem Start auf 432,4 km/h.
Ermittelt werden die Geschwindigkeiten jeweils als Mittelwert von
Fahrten in beide Richtungen. Caracciola lobt in seiner späteren
Biografie das Fahrzeug: „Der Wagen liegt herrlich auf der Straße. Ich
merke es schon auf der Anlaufstrecke. Es ist ein ganz anderes Fahren als
mit der Konstruktion im vorigen Jahr.“ Dies demonstriert eindrucksvoll
den Erfolg der Aerodynamik-Optimierung mit der grundlegend neu
entwickelten Stromlinienkarosserie.
Die Auto Union versucht noch am gleichen Tag, diesen neuen Mercedes-Benz
Rekord zu brechen. Doch Bernd Rosemeyer, der erfolgreichste Rennfahrer
des Konkurrenzunternehmens, verunglückt dabei tödlich. Sein Fahrzeug
wird in voller Fahrt von einer Windböe erfasst und von der Fahrbahn
gedrängt.
Rudolf Caracciola und sein Geschwindigkeitsrekord: Ein Blick ins Museum. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Fast acht Jahrzehnte lang bleibt der von Caracciola erzielte
Geschwindigkeitsrekord auf einer öffentlichen Straße bestehen. Erst am
4. November 2017 wird er übertroffen und auf 445,54 km/h verschoben. Das
Fahrzeug hat fast die doppelte Motorleistung. Damit ist der
Mercedes-Benz W 125 Rekordwagen bis heute ein Musterbeispiel für
Effizienz. Das Originalfahrzeug von 1938 hat heute im Mercedes-Benz
Museum einen Ehrenplatz: in der Rekordwagen-Präsentation beim Mythosraum
7 „ Silberpfeile - Rennen und Rekorde“.
Text: ampnet/Sm
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