Historie und Histörchen (74): Béla Baréyni – das letzte Interview des Genies
m August vor 80 Jahren begann ein unbekannter Ingenieur bei Daimler-Benz, der die Autowelt umkrempelte: Béla Baréyni. Er hat unter anderem die Knautschzone und die Sicherheitslenkung erfunden. Ein Genie, das zum Schutzengel von Millionen wurde. Harald Kaiser führte das letzte Interview mit dem damals 86-Jährigen im Jahr 1993.
Der Urknall fand vor 60 Jahren statt. Am 10. September 1959, einem
schönen Spätsommertag, gab es bei Daimler-Benz zwei Premieren auf einen
Schlag: Das erste Serienauto mit Knautschzonen vorne und hinten musste
beim ebenfalls ersten simulierten Frontalunfall beweisen, dass die
vordere Crashzone die Aufprallenergie absorbiert, indem sie sich im
Moment des Knalls verformt. Klappt es, ist bewiesen, dass dadurch enorme
physikalische Kräfte von den Insassen ferngehalten werden, die
ansonsten zu schweren Verletzungen oder sogar zum Tod führen können.
Der Test lief auf einem Abstellplatz des Werksgeländes in Sindelfingen.
Die Wetterbedingungen waren ideal. Laut Deutschem Wetterdienst wehte ein
leichter Wind und die Temperatur lag bei 25 bis 26 Grad. Die Besatzung
des Testwagens (Baureihe 220) bestand aus einer Puppe auf dem Fahrersitz
und drei Sandsäcken von je 75 Kilo auf den übrigen Plätzen. Die
Barriere war eine Wand aus Holzbohlen mit 17 Tonnen schweren ehemaligen
Presswerkzeugen dahinter. Zum Beschleunigen auf 55 km/h diente eine
Segelflugzeugschleppwinde. Im Moment des Aufpralls faltete sich die
vorde-re Knautschzone planmäßig stark zusammen, während die
Fahrgastzelle wie erhofft stabil geblieben ist. Damit war bewiesen, dass
die Idee der Knautschzone funktioniert. Interessant ist, dass die
Produktion des Typs Mercedes 220 mit dieser Sicherheitskarosserie
bereits seit August 1959 lief, der Crashtest aber erst im September
stattfand. Man wusste also beim Serienstart nicht, ob die eingebaute
Sicherheit hielt, was sie in der Theorie versprach.
Mit dem Frontalaufprall eines Fahrzeugs der Baureihe W 111 begannen am 10. September 1959 die Crashtests von Mercedes Benz. Es ist das erste Automobil der Welt mit gestaltfester Fahrgastzelle und Knautschzonen an Front und Heck. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Geistiger Vater der verformbaren Front- und Heckpartie eines Autos ist
Béla Barényi, der vom damaligen Daimler-Chef Wilhelm Haspel persönlich
eingestellt worden war – nach einem gänzlich ungewöhnlichen
Bewerbungsgespräch. Barényi erklärte Haspel im Sommer 1939 nämlich
selbstbewusst, dass Daimler unter Sicherheitsgesichtspunkten die
falschen Autos baue und dass er wisse, wie man die besser konstruieren
könne. Haspel war beeindruckt und stellte Barényi ab 1. August 1939 ein.
Die Idee der Knautschzone hatte Barényi bereits früh. Anfang der
1930er-Jahre, er war etwa Mitte 20, beschäftigte sich der gebürtige
Österreicher mit dem so genannten Zellenfahrzeug – einem ersten
Sicherheitsauto mit Bug-, Mittel- und Heckzelle. Damals arbeitete
Baréyni als Konstrukteur bei der Gesellschaft für technischen
Fortschritt (Getefo) mit wechselnden Einsätzen in Berlin und in Paris.
Welche unglaubliche visionäre Gabe Béla Barényi angetrieben hat, brachte
später ein ehemaliger Büronachbar bei Daimler-Benz auf den Punkt. Ernst
Fiala, selbst promovierter Ingenieur und später Entwicklungsvorstand
bei VW, sagte: „Im Grunde war alles, was er denkt, patentreif“ ... „Er
hat im Durchschnitt jeden Tag ein internationales Patent angemeldet.“ So
steht es in Fialas Memoiren „Soviel Auto braucht der Mensch“, die 1990
erschienen sind. Es sollten im Verlaufe von Jahrzehnten mehr als 2500
Patente werden.
Béla Barényi, 100 Jahre am 1. März 2007. Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Doch bevor sich die Knautschzone durchsetzen konnte, galt: Sicher ist
ein Auto nur, wenn es hart ist. Das war ein Irrglaube, denn er
bedeutete, dass die Aufprallenergie mit fatalen Folgen an die Insassen
weitergegeben wird. Dass das Gegenteil richtig war – vorne wie hinten
labile Partien in der Karosserie und in der Mitte eine stabile
Fahrgastzelle – skizzierte Barényi bereits 1950. Am 28. August 1952
wurde die Knautschzonen-Idee mit den drei Zellen patentiert. Der
Hauptanspruch dieses Patents ist laut Originalbeschreibung „...dadurch
gekennzeichnet, dass Fahrgestell und Aufbau so bemessen sind, dass ihre
Festigkeit im Bereich des Fahrgastraums am größten ist und nach den
Enden zu stetig oder stufenweise abnimmt“.
Die Konstruktion revolutionierte den Autobau, denn das Patent wurde von
der Konkurrenz kopiert. Daimler-Benz zeigte sich angesichts der
Patentverletzungen jedoch überraschend weitsichtig und ging nicht
juristisch dagegen vor. Der Grund für das Verhalten: Sichere Autos aller
Hersteller galten als das höhere Gut. So wandelte sich das einstige
Tabuthema Sicherheit langsam zum Verkaufsargument.
Weitgehend unbekannt ist heute, dass Barényi Jahre vor Ferdinand Porsche
das Prinzip des „kommenden Volkswagens“ entwickelt hat. So nannte
Barényi seine 1925 angefertigte Konstruktionszeichnung der Bodengruppe.
Sie enthielt bereits alle wesentlichen technischen Merkmale, die später
den VW Käfer kennzeichneten: Boxermotor im Heck, Luftkühlung, die
Motoranordnung hinter und die des Getriebes vor der Hinterachse.
Als zwei Schriftsteller, Herbert A. Quint und Horst Mönnich, diese
Urheberschaft Anfang der 1950er-Jahre in zwei Büchern höhnisch
verneinten und sie stattdessen Porsche zuschrieben, verklagte Barényi
beide. Im Laufe des Prozesses gegen Quint stellte sich heraus, dass
dieser Name von Por-sche-Mitarbeiter Richard v. Frankenberg als
Pseudonym benutzt wurde. Barényi gewann beide Verfahren, die bis vor den
Bundesgerichtshof (BGH) gingen. Der „Quint“-Prozess wurde vom BGH an
die Patentkammer des Landgerichts Mannheim verwiesen, das die Klage im
Juli 1955 final zuguns-ten Barényis entschied. Und im Oktober 1955 kam
es im Berufungsverfahren gegen Mönnich vor dem BGH zum Vergleich.
Mönnich erklärte, seine Behauptungen nicht mehr zu verbreiten. Somit kam
Barényi die Priorität zu, die wichtigsten Konstruktionsmerkmale des VW
vor Porsche entworfen zu haben.
Béla Barényi (1939). Foto: Auto-Medienportal.Net/Daimler
Hier das letzte Interview, das Béla Baréyni 1993 zu seinem
beeindruckenden Lebenswerk gegeben hat. Vier Jahre später verstarb er im
Alter von 90 Jahren in einem Pflegeheim in der Nähe von Stuttgart:
Herr Barényi, nachdem Sie die Prozesse in Sachen „kommender Volkswagen“
letztinstanzlich gewonnen haben, hätten Sie eine Lizenzgebühr einklagen
können. Porsche bekam ja viele Jahre lang pro hergestellten Käfer fünf
Mark von VW. Und mehr als 20 Millionen Stück sind gebaut worden. Mit
einer Lizenzgebühr wären Sie also vielfacher Millionär geworden. Warum
haben Sie auf eine Klage verzichtet?
„Ich war müde von den jahrelangen rechtlichen Auseinandersetzungen. Die
Prozesse zogen sich ja über sieben Instanzen. Und ich hatte auch das
Geld nicht, um weitermachen zu können. Denn VW wäre sicher durch alle
Instanzen gegangen. Und das hätte mich eine Menge Geld und Nerven
ge-kostet. Ferner habe ich darauf gebaut, dass die Herren ein schlechtes
Gewissen bekommen und mir angesichts der höchstrichterlichen
Rechtsprechung wenigstens ein Anstandshonorar zahlen würden. Das haben
sie aber nicht getan. Dann habe ich die Angelegenheit nicht weiter
verfolgt, weil ich vor allem Techniker und kein Geldmensch bin.“
Sie haben auch Prozesse wegen anderer Verletzungen Ihrer Patente geführt. Waren die erfolgreich?
„Ja, es waren zehn. Zum Beispiel gegen Ford. Ich habe damals 160 000
Mark dafür bekommen, weil die meine Ideen des Sicherheitslenkrades
geklaut haben. Ursprünglich lag der Streitwert bei 800 000 Mark. Dass es
deutlich weniger als diese Summe geworden ist, lag an den hohen
Prozessgebühren, die sich wiederum am Streitwert orientierten. Und diese
Gebühren konnte ich einfach nicht bezahlen. Mein Anwalt hat mir deshalb
empfohlen, den Streitwert auf ein Fünftel zu senken. So habe ich am
Ende eben nur 160 000 Mark bekommen.“
Wie kamen Sie auf das Thema Insassenschutz?
„Es war hauptsächlich Intuition. Ich habe mich schon als Schüler für
Autotechnik interessiert. Zum Beispiel das lebensgefährliche
Lenkgestänge, das es damals in allen Autos gab. Anschließend habe ich
darüber nachgedacht, wie man das verbessern könnte, um das
Verletzungsrisiko im Falle eines Unfalls zu reduzieren.“
Waren Sie damit nicht der Feind aller etablierten Autokonstrukteure?
„Ja. 90 Prozent der Kollegen haben den Kopf geschüttelt. Der damalige
Daimler-Chefkonstrukteur Max von Wagner zum Beispiel sagte zu meinen
Entwürfen laut meinem Daimler-Kollegen Karl Wilfert oft „Scheiße,
Scheiße, Scheiße“.“
Was haben Sie anfangs bei Daimler verdient?
„Das weiß ich noch genau, 550 Mark brutto im Monat. Etwa ein Jahr später
habe ich erfahren, dass Techniker schon 1000 Mark verdienten. Daraufhin
habe ich frech das Dreifache gefordert und auch bekommen, aber in Raten
über drei Jahre gestreckt. Später, im Januar 1941, zahlte mir
Daimler-Chef Wilhelm Haspel überraschend 15 000 Mark. Das war
Erfindervergütung.“
Trotz all Ihrer Erkenntnisse standen Sie mit dem Sicherheitsgurt auf Kriegsfuß, warum?
„Mir war er zu unbequem. Mich störte auch die Gurtlose. Damit ist der
oft zu lockere Sitz des Gurtes gemeint. Automatikgurte, die sich dem
Körper anpassen, gab es nicht. Meist bin ich unangeschnallt gefahren,
ich hatte eine Sondergenehmigung (grinst).“
Anmerkung:
Das Gespräch mit Barényi fand am 27. Januar 1993 in seinem Haus in
Sindelfingen-Maichingen statt. Er war damals 86 Jahre alt. Das Interview
führte Harald Kaiser. Anwesend war auch Alexander von
Seydlitz-Kurzbach, leitender Mitarbeiter der Presseabteilung von
Daimler-Benz. Erstmals veröf-fentlicht wurde das Gespräch im Februar
2019 in dem E-Book „Béla Barényi - Das unbekannte Genie“, runterladbar
unter
https://itunes.apple.com/de/book/béla-bare-nyi-das-unbekannte-genie/id1451492851?mt=11.
Text: ampnet/Harald Kaiser
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